Von Bollywood zu Bass: Die indische Underground-Szene boomt
Lange war Indien vor allem bekannt für Bollywood und klassische Traditionen – elektronische Musik spielte im Mainstream kaum eine Rolle. Doch das ändert sich gerade rasant.
Lange war Indien vor allem bekannt für Bollywood und klassische Traditionen – elektronische Musik spielte im Mainstream kaum eine Rolle. Doch das ändert sich gerade rasant.
Laut dem aktuellen IMS Business Report gehört Indien, neben Lateinamerika und Afrika, zu den Regionen mit dem weltweit größten Wachstum bei Hörer:innen elektronischer Musik. Besonders spannend: Der Boom kommt nicht allein durch große EDM-Festivals wie Sunburn oder NH7 Weekender, sondern wird stark durch eine lebendige, unabhängige Underground-Szene getragen. Und die wächst gewaltig.
Schon in den 1990ern legten Pioniere wie Arjun Vagale, Kohra oder das Duo BLOT! den Grundstein für die elektronische Underground-Bewegung abseits des Mainstreams, in einem Umfeld, in dem Clubkultur kaum existierte. Denn Elektronische Musik hatte es in Indien lange schwer. In den frühen 2000er Jahren galt sie vielerorts als kulturell fremd oder „tabu“. Clubs hielten sich zurück, und politische Regulierungen wie frühe Sperrstunden oder strenge Lizenzvorgaben machten es für Veranstaltende schwer, elektronische Partys zu organisieren. Die Szene hat sich deshalb eher im Schatten etabliert, unter dem Radar und mit viel Durchhaltewillen.
Seit etwa 2015 hat sich ein richtiges Ökosystem rund um elektronische Musik entwickelt: Von spezialisierten Promoter:innen über Indie-Labels bis hin zu Festivalteams, Sounddesignern und Visual Artists. Diese Community schafft Strukturen, auf denen neue Talente aufbauen können. Heute, rund 30 Jahre später, gibt es eine vielschichtige Szene in Indien. In Metropolen wie Delhi, Mumbai, Bangalore oder Pune entstehen experimentelle Events – von Warehouse-Raves über Do-It-Yourself-Festivals bis hin zu Waldraves –, oft organisiert von unabhängigen Kollektiven. Wichtig dabei: Viele Kollektive achten auf Qualität und Atmosphäre. Sound, Licht, Nachhaltigkeit, Diversität, Community und Awareness werden aktiv mitgedacht. Es gibt noch immer logistische und rechtliche Herausforderungen, zum Beispiel Lizenzprobleme, Polizeikontrollen, finanzielle Unsicherheit. Doch das hält viele Veranstalter:innen nicht davon ab, weiterhin kreativ und aktiv zu bleiben.
Clubs wie Moar Disco, Auro, Antisocial, oder das avantgardistische Cyber Mehfil in Delhi sind heute Heimat für eine neue Generation an DJs, Produzent:innen und Veranstalter:innen. Dabei ist der Sound nicht unbedingt der westliche, den wir aus den Clubs hier gewöhnt sind, sondern stark lokal geprägt: Viele Acts mischen elektronische Genres mit indischer Musikkultur – von Techno mit Carnatic-Einflüssen, über Ambient mit Desi-Samples, bis hin zu Jungle und Jazz-Vibes mit klassischer Instrumentierung.
Natürlich gibt es auch Diskussionen um die voranschreitende Kommerzialisierung. Großevents holen zwar internationale Headliner nach Indien und bringen elektronische Musik ins Bewusstsein der breiten Masse, doch viele Künstler:innen und Kollektive setzen bewusst auf Unabhängigkeit und Underground-Spirit. Sie sehen die Underground-Szene nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Abgrenzung zum Mainstream als wertvoll. Bis heute finden viele der spannendsten Veranstaltungen fernab der glatt gebügelten, kommerziellen EDM-Welt statt, in leerstehenden Industriehallen, im Dschungel oder einfach unter freiem Himmel.
Die Entwicklung in Indien bleibt nicht unbemerkt. Immer mehr indische Acts touren international, releasen auf bekannten Labels wie Anjunadeep oder werden zu festen Namen in globalen Festival-Line-ups. Gleichzeitig entdecken auch westliche Künstler:innen die Szene vor Ort und suchen aktiv die Zusammenarbeit mit indischen Produzent:innen und Kollektiven.
Indiens elektronische Szene ist nicht nur im Kommen, sie ist mittendrin, sich selbst neu zu erfinden. Mit über 1,4 Milliarden Menschen, einer riesigen Jugendkultur und wachsender digitaler Vernetzung ist das Potenzial riesig. Wenn die Szene ihre kreative Freiheit bewahrt, wird sie international noch eine viel größere Rolle spielen und das als eigenständige, kreative Bewegung.
Von Johannah Hainke