Alkoholkonsum: Ist das noch Genuss?
Ob Feierabendbier oder Aperitivo – In vielen Teilen Europas ist Alkohol ein fester Bestandteil des Alltags. Was das für uns bedeutet, ist jedoch den wenigsten bewusst. Wir sprechen darüber.
Ob Feierabendbier oder Aperitivo – In vielen Teilen Europas ist Alkohol ein fester Bestandteil des Alltags. Was das für uns bedeutet, ist jedoch den wenigsten bewusst. Wir sprechen darüber.
Ende Juni, 30 Grad, blauer Himmel, das schreit nach Bierchen im Park, langen Abenden in Bars oder Raves mit Freund:innen. Das berühmte Wegbier gehört genauso dazu wie die gute Gesellschaft. Und wer nicht trinkt, bekommt oft zu hören: „Was ist los bei dir, warum trinkst du nicht?“ oder „Sei nicht langweilig – ein Drink geht doch!“ Der öffentliche und weit verbreitete Alkoholkonsum ist immer wieder Thema in gesellschaftlichen Diskussionen – eine grundlegende Veränderung im Umgang damit ist bisher jedoch kaum erkennbar.
In einer aktuellen Studie von Springer Nature heißt es: Eine risikofreie Menge Alkohol gibt es nicht. Alkohol ist ein Nervengift – besonders gefährlich für junge Menschen zwischen 12 und 25 Jahren, bei denen regelmäßiger Konsum zu bleibenden Schäden am Gehirn führen kann. Die Substanz trägt jährlich zu 800 000 Todesfällen bei, überwiegend aufgrund von nichtübertragbaren Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs, heißt es von der World Health Organisation (WHO). Auch bei Stürzen, Ertrinken, Verbrennungen, sexuellen Übergriffen, Gewalt durch Intimpartner und Suizid spielt Alkoholk eine erhebliche Rolle. Doch trotz allem ist Alkohol Teil unseres Alltags. Deswegen hat die WHO in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union Ende letzten Jahres eine Kampagne mit dem Titel "Redefine Alcohol" (Alkohol neu definieren) gestartet. Das Bewusstsein für die Risiken von Alkoholkonsum, insbesondere in der Europäischen Region, soll so geschärft werden. Alkohol als kulturelles Selbstverständnis adé. Aber warum braucht es solch eine Kampagne? Und warum speziell in Europa? Ist unser Alkoholkonsum wirklich so schlimm?
Wir schauen genauer hin: WER trinkt in Europa? Und WIE wird hier getrunken? In vielen europäischen Ländern wird einem bereits mit 16 Jahren Bier, Wein und Sekt legal verkauft. In Deutschland, Belgien, Österreich, Dänemark und Luxemburg zum Beispiel. In Großbritannien, Irland, Italien, Spanien und Griechenland dann zwei Jahre später. Wohl auch ein Grund, weswegen in Europa weltweit am meisten getrunken wird. Nach neusten Angaben der WHO trinken die Menschen in den 53 Ländern mehr Alkohol als die Einwohner:innen in allen anderen Regionen und das hat sich im letzten Jahrzehnt nicht wesentlich verändert. Männer trinken dabei fast viermal so viel wie Frauen. Schätzungsweise soll jeder zehnte Erwachsene Alkoholprobleme haben, fast jeder zwanzigste sei alkoholabhängig.
Bei Jugendlichen ist Alkohol die am weitesten verbreitete Substanz. Für sie ist das öffentliche “besaufen” kein unbekanntes Ritual. In Parks, am Strand, in Bars. Meist mit dem Ziel möglichst schnell betrunken zu werden – mit Hilfe von Trinkspielen wie Bier-Pong oder Flunkyball. Laut WHO/Europa-Studie zu Alkohol, E-Zigaretten, Cannabis haben 57% der befragten 15-Jährigen mindestens einmal Alkohol probiert, und fast 4 von 10 (37%) gaben an, in den letzten 30 Tagen Alkohol konsumiert zu haben.
Spitzenreiter beim Komatrinken waren 2024 Finnland, Island, Irland, Luxemburg und Malta. Nicht weit dahinter taucht Deutschland auf und gehört somit zu den sogenannten “Hochkonsumländern”. Im Schnitt werden hier jährlich 12,2 Liter pro Kopf reiner Alkohol konsumiert – das wären 488 große Bier pro Kopf im Jahr. Und das ist mehr als doppelt so viel wie der globale Durchschnitt zu sich nimmt. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ist es in Deutschland legal, Alkohol bis spät in die Nacht auf der Straße zu trinken. Ein Erasmus-Student beschreibt die Berliner Partyszene so: „In Berlin folgen Clubbing und Trinken ganz anderen Regeln als in anderen Städten. Hier wird die ganze Woche gefeiert – auch sonntags oder montags.”
In einem Land verliert das Binge Drinking, also trinken bis zum Umfallen, an Ansehen: England. Während London 2017 noch als Hochburg des Rauschtrinkens galt, gaben 2023 bereits 31% der 18- bis 34-Jährigen gegenüber Drinkaware an, nie Binge Drinking zu betreiben.
Italien, Donnerstag, 18 Uhr: Statt Feierabendbier wird hier der romantische Aperitivo gereicht. Genau wie in Deutschland geht es oft weniger um den Alkohol selbst als um das soziale Ritual dahinter. Nicht: „Sehen wir uns noch?“ – sondern: „Bis gleich zum Aperitivo?“ Alkohol wird damit zu einem sozialen Element: Er stiftet Begegnungen, ermöglicht Geselligkeit. „Ich bin gesprächiger nach einem Drink“, ist eine typische Aussage. Alkohol enthemmt, macht locker, erleichtert das Ansprechen fremder Menschen. Für manche wird er sogar zum Ventil – gegen den Druck im Job, in Beziehungen oder durch soziale Medien.
Vor allem durch Instagram, TikTok und Co. wird man einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt – das stresst. Eine Studie von BMC Public Health hat über 3.500 norwegische Jugendliche befragt und zeigt: Wer negative Erfahrungen in sozialen Medien macht, etwa Ausgrenzung oder unerwünschte Aufmerksamkeit, greift häufiger zur Flasche und das ohne Hemmungen. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V warnt vor dieser vermeintlich einfachen Lösung gegen soziale Ängste und Stress, denn es kann zu schwerwiegenden psychischen Folgen führen. Längerer Alkoholmissbrauch oder Abhängigkeit kann Stimmungsschwankungen, Angstzustände oder Depressionen auslösen. Und auch im sozialen Umfeld kann es zu Konflikten mit Freund:innen oder Partner:innen kommen.
Schon 2009 sollte die Social-Marketing-Kampagne “Alkohol? Kenn dein Limit.”, die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Alkohol verändert. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) richtet sich gezielt an 16- bis 20-Jährige, um Jugendliche zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol zu motivieren. „Alkohol? Kenn dein Limit.“ hat einen gesellschaftlichen Diskurs angestoßen und das Thema Alkoholprävention auf die gesundheitspolitische Agenda gebracht. Zwar ist das Suchtrisiko der Substanz, auch durch diese Kampagne, grundsätzlich bekannt, aber vielen Menschen in Europa ist immer noch nicht bewusst, was für langfristige gesundheitliche Schäden Alkohol auslöst. Mit der WHO-Kampagne „Redefine Alcohol“ wird speziell auf den Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und verschiedenen Krebsarten aufmerksam gemacht. Denn Alkohol ist laut Fachleuten eine bekannte Ursache für mindestens sieben Krebsarten, darunter häufige Formen wie Dickdarm- und Brustkrebs. Bewusst ist das weniger als der Hälfte der Europäerinnen und Europäer, so WHO. Sie stellen die Frage, ob unser Umgang mit Alkohol wirklich so normal ist, wie viele denken, und ruft dazu auf, den Alkoholkonsum zu verringern. Vielleicht lohnt es sich also, hin und wieder innezuhalten und zu fragen: Braucht es das Bier wirklich – oder ginge es auch ohne?